Der Maler Ewald Seemayer und die Interpretation des Moments

Ein Exklusiv-Portrait von LebensArt-Biografien

Venedig. Ein Boot liegt schaukelnd auf Wellen, vertäut an einem Holzpfeiler. Die bizarren Konturen der Ruderhalterung vor dem bewegten Wasser erregen die Aufmerksamkeit eines faszinierten Beobachters, der von einer Brücke hinab auf dieses Szenario starrt: Ewald Seemayer, der Salzburger Maler mit dem Faible für Lichtbrechungen und Spiegelungen – und der Vorliebe, Segmente des visuellen Moments aus dem Kontext herauszuheben, zu studieren und neu zu interpretieren.

Who Am I?, Öl auf Leinwand, 60x80 cm

Denn dort, wo wir Normalsichtigen meist blick- und ahnungslos vorübereilen, hält Ewald Seemayer inne, um zu staunen – und ganz genau zu beobachten. Dafür nimmt er sich viel Zeit, am liebsten am Wasser. Weil seinem analytischen Auge kein Detail entgeht, hat der Maler innerhalb eines Moments das Zusammenspiel von Wasser, Licht, Farben und Formen erfasst, eine Szenerie, die sich noch während des Beobachtens hundertfach weiter verändert. Sobald er ein interessantes Motiv entdeckt hat, zückt er also seinen Fotoapparat, drückt auf den Auslöser und hat damit die digitale Grundlage für das, was er etliche Arbeitsschritte später auf die Leinwand bringen wird. Denn der Künstler gibt sich nicht mit dem zufrieden, was die visuelle Realität ihm in so einem Moment – wenn auch auf meist subtile Weise – darbietet. Er erkennt immer das Potenzial, das sich in Wahrheit hinter der äußeren Erscheinungsform des Augenblicks verbirgt, und seine Vorstellungskraft arbeitet bereits an einer Weiterentwicklung. In Folge setzt er alles daran, auf seiner Leinwand die Facetten des von ihm Erkannten auch für uns, die „Blicklosen“, sichtbar werden zu lassen.

Der Balkon, Öl auf Leinwand, 60x80 cm

Zunächst wird die Fotografie am PC digital bearbeitet. Farben und Muster werden verändert, Strukturen hervorgehoben oder entfernt, Kontraste geschaffen. Auf diese Weise gewinnt das Bild an Spannung und seine wesentlichen Elemente rücken in den Fokus. Es ist kein Zufall, dass Ewald Seemayer sich dieser technischen Methoden bedient, um seine Malereien zu entwickeln. Schon während seiner beruflichen Tätigkeit als Diplomgeograph mit dem Spezialgebiet Kartographie zählte die Darstellung von Dreidimensionalität zu seinem Repertoire. Ähnlich wie er damals Landschaften erfasst und dabei mit Farben, Linien, Mustern und verschiedenen Mitteln der Hervorhebung gearbeitet, seine Karten also akribisch geplant und konstruiert hat, so konstruiert er in gewissem Sinne auch seine Malereien. Für die finale Ausarbeitung auf Leinwand verwendet er dann häufig Komplementärfarben und erzeugt auf diese Weise kraftvolle Kompositionen, die schon aufgrund ihres Kontrastreichtums eine anregende Wirkung auf Auge und Gehirn des Betrachters haben. Nicht selten entwickelt er dabei mehrere, sich vor allem in der Farbgebung unterscheidende Variationen ein und desselben Motivs.

Alsterwasser (oder Mann mit Zigarre), Acryl auf Leinwand, 90x120 cm

So enthält beispielsweise die Serie „Alsterwasser“ Malereien, die Ewald Seemayers Beobachtungen in Hamburgs Kanälen und Altstadt entsprungen sind. Seine Sammlung „Spiegelwelten“ wiederum beschäftigt sich mit Ausschnitten von Gebäuden oder Naturszenerien, die sich in Wasser oder an Glasflächen spiegeln. Generell spielen die Themen Licht, Geometrie und Architektur im Werk des Künstlers eine bedeutende Rolle.

Ist ein Werkstück vollendet, liegt dem Maler viel daran zu erfahren, wie seine Bilder auf die Betrachter wirken und welche Assoziationen sie hervorrufen. Er versieht seine Werke mit Titeln, um sie im Gespräch benennen zu können. Naheliegenderweise versuchen die meisten Menschen, auf Seemayers Bildern das Ausgangsmotiv zu erkennen und es zu definieren. Auf eigentümliche Weise beruhigt das den manchmal irritierten Verstand, der auch in abstrakter Malerei am liebsten nach etwas Verstehbarem, Greifbarem sucht. Ewald Seemayer gibt in solchen Fällen bereitwillig Auskunft, doch am liebsten ist es ihm, wenn der Betrachter es schafft, sich der Wirkung seiner Bilder einfach hinzugeben und sie ohne intellektuelle „Gehhilfen“ zu durchwandern – sie also zu erleben wie ein Kind es tun würde. Die Fantasie soll angeregt, Gestalten dürfen erkannt und benannt werden: Frauengesichter, ein Tanz in der Walpurgisnacht oder etwas wie der Heilige Georg mit seiner Lanze. Man kann durchaus sagen, dass das Betrachten dieser Bilder das „innere Auge“ und den „siebten Sinn“ stimuliert. Auch wenn das Ausgangsmotiv dann doch nur ein paar Äste mit Blättern über einer leicht bewegten Wasserfläche waren.

Der goldene Weg (aus der Serie "der Thumsee-Effekt"), Acryl auf Leinwand, 80x120 cm

Das Leben führte Ewald Seemayer nicht selten an Scheidewege und pinselte ihm auch manchmal den sprichwörtlichen Strich durch die Rechnung. Immer wieder forderte es ihn heraus, umzudenken und Neues zu wagen. Ähnlich erfindungsreich, wie er diese Lebenssituationen meisterte, malt er auch seine Bilder: Er fokussiert sich auf einen bestimmten Teilausschnitt der Realität und wandelt ihn ab, um einen neuen Mikrokosmos daraus zu erschaffen. „So war es bei mir oft – ich hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen, doch das Leben hat anders gespielt“, meint Ewald Seemayer schmunzelnd. „Das ist so meine Lebensdevise: Aus dem, was man vorfindet, etwas machen.“

Künstlerisches Talent und die Fähigkeit, kreative Ideen konstruktiv umzusetzen, machten sich bei ihm bereits in der Kindheit bemerkbar. So entwarf er damals schon für die Modelleisenbahn Bausätze für Papierhäuser oder bastelte den Pfahlbau einer Biberburg aus Streichhölzern nach, ohne lange überlegen zu müssen. Seine musikalische Begabung wurde ausgiebig gefördert, zunächst mit Akkordeon-, dann mit Klavierunterricht an einer Salzburger Musikschule. Mit siebzehn Jahren sang er bereits im Kirchenchor, die Matura (Abitur) legte er unter anderem im Fach Klavier ab. Eine Zeit lang dachte der junge Ewald Seemayer damals über eine Musikerlaufbahn nach, begann dann aber ein Studium der Geografie und Mathematik, zunächst auf Lehramt. Nach einigen Jahren stieg er auf ein Diplomstudium für Geografie mit Schwerpunkt geographische Informationssysteme um, damals bei uns eine völlig neuartige Studienrichtung. Ab dem vierten Studienjahr übernahm er an seinem Institut auch als Studienassistent diverse Aufgaben und begann schon bald mit eigenen Vorlesungen. Noch während dieser Zeit machte er außerdem eine Ausbildung am Kirchenmusikreferat Salzburg, um in den darauffolgenden Jahren nebenberuflich als Kirchenmusiker zu arbeiten. In dieser Funktion gestaltete er regelmäßig Gottesdienste und leitete Chöre.

San Galgano, Acryl auf Papier, 27x19 cm

Nach Studienabschluss stand der frischgebackene Experte für geographische Informationssysteme jedoch erst einmal vor dem Nichts. Mangels Arbeitsmöglichkeiten in seinem – damals wohl noch zu neuartigen – Fachbereich nahm er zunächst eine Anstellung beim Statistischen Dienst der Stadt Salzburg an, wo er hauptsächlich Programme schrieb. Parallel dazu bildete er sich in den unterschiedlichen Programmiersprachen weiter. Als er sich darin ausreichend sattelfest fühlte, gründete Ewald Seemayer gemeinsam mit Kollegen ein Softwareunternehmen, denn nach vier Jahren im Behördendienst begann sich die Sehnsucht nach Veränderung bemerkbar zu machen. Nach einer mehrjährigen Phase der Selbständigkeit mit all ihren Vor- und Nachteilen, Höhen und Tiefen kehrte er aber schließlich wieder in den Dienst der Stadt Salzburg zurück, wo er seither als Informatiker arbeitet.

Über insgesamt zwanzig Jahre hinweg wirkte er außerdem an der Universität nebenberuflich als Fernstudienbetreuer im Bereich Datenbanktechnik für Geographen und gab EDV-Unterricht am Salzburger Wirtschaftsförderungsinstitut.

Splash, Acryl auf Leinwand, 80x80 cm

Was sich wie ein roter Faden durch alle Tätigkeiten des Multitalents zieht, ist seine Fähigkeit, künstlerische Prinzipien fächerübergreifend anzuwenden. Denn ob es die Felsskizzen für seine Landkarten waren, Plakate, die während der Zeit der Selbständigkeit entstanden, Programme, die in Form von Diagrammen auf die Tafel skizziert wurden, oder die Gestaltung von Bildschirmoberflächen – Ewald Seemayers ausgeprägtes Gefühl für Farben, Formen, Struktur und Praktikabilität war stets unverkennbar. Ein Bonus, der nicht nur von seinen Anwendern, Schülern, Auftraggebern und Kollegen geschätzt wurde, sondern auch von seinen Kindern, für die er zu Hause ebenfalls nach Wunsch und Bedarf Zeichnungen und Bastelarbeiten anfertigte.

Leidenschaftlich kombiniert Ewald Seemayer seine Expertise aus den vielen Betätigungsfeldern, erkennt Querverbindungen und erlebt sie als Zusammenschau. „Mein Werdegang war schon interessant, auch deshalb, weil ich überall der Exot war, zuerst bei den Geographen und später im informatischen Umfeld“, erzählt er. „Meine Overheadfolien hat man besonders gern betrachtet, denn sie waren nach malerischen Gesichtspunkten aufgebaut. Da war Farbe drin und nie zu viel Inhalt, man hatte den Überblick, denn die Anordnung war mit Blickachsen versehen, so wie ich es als Maler gelernt hatte. Alles spielt zusammen, das Konstruktive, die Analyse mit Naturbezug, in der Geographie wie in der Malerei. Aus der Musik kommt das Kompositorische, die Motive und Iteration dazu, ähnlich wie in der Malerei, wo Farben und Motive sich ebenfalls wiederholen, und auch hier werden Details betrachtet und analysiert, genau wie in der Geographie.“

Fugato mit Magenta, Öl auf Leinwand, 90x120 cm

Gerade die Musik als wichtiger Anker im Leben Ewald Seemayers verbindet ihn auch in besonderer Weise mit seiner Ehefrau Luitgard, einer Klavierpädagogin, mit der er heute in Freilassing lebt. Bereits seit vielen Jahren singt das Paar im Salzburger Domchor und veranstaltete auch schon klassische Haus- sowie öffentliche Konzerte, unter anderem im Laufener Rathaussaal. Trotz seines regen Berufslebens schaffte Ewald Seemayer es nämlich, einige Jahre lang privaten Gesangsunterricht bei einer Opernsängerin zu nehmen, um seinen tiefen Bass zu schulen. Dies kam ihm besonders zugute, als er im Rahmen seines Wirkens beim Künstlerverein „Laufener Palette“, mit dessen Leitung er neun Jahre lang betraut war, Opernabende organisierte, an denen er sich auch mit eigenen Gesangsvorträgen beteiligte. Irgendwann nahm das zeitliche Engagement für diese Aufführungen dann aber doch zu sehr Überhand, weshalb der vielseitige Künstler sich schließlich entschloss, das mit öffentlichen Auftritten verbundene Singen aufzugeben. „Man muss sich aufs Wesentliche konzentrieren“, erinnert sich Ewald Seemayer, „und so folgte eine harte Zeit der Überlegung. Heraus kam: Ich möchte verstärkt mit der Malerei weitermachen. Also besuchte ich vermehrt Akademien und Seminare, um mich konzentriert weiterzubilden. Dabei durfte ich unter anderem auch bedeutenden Persönlichkeiten wie etwa Markus Lüpertz begegnen und von ihnen lernen. Gleichzeitig reifte das Bewusstsein, dass Seminare eine gute Anregung bieten. Der eigentliche Lernprozess findet aber durch die intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten des Seminars in der Zeit danach statt oder einfach gesagt: Es kommt auf das Tun an. Man muss wirklich Zeit haben für das Malen und auch Platz, man muss sich austoben und seine eigene Arbeitsmethode finden.“

Dennoch plant das Ehepaar Seemayer, auch wieder private musikalische Abende zu organisieren und sich dazu Gäste einzuladen: „Wir lieben es zusammen zu musizieren, kommen aber weniger dazu als uns lieb ist. Und da meine Frau selbst so gut singt, fehlt uns eher der Pianist. Dennoch möchten wir das Format der Hauskonzerte in naher Zukunft wiederbeleben, hier in unserem Haus ist genügend Platz dafür.“

Abendspaziergang, Öl auf Leinwand, 100x120 cm

Als ich Ewald Seemayer nach seinen Zielen für die nächsten Jahre frage, deutet er mit leuchtenden Augen auf einen Kontrabass, der im Wohnzimmer des Hauses steht und nur darauf zu warten scheint, in diesem von Kunst und Klang durchdrungenem Heim ebenfalls erklingen zu dürfen. „Den habe ich bei einer lieben Bekannten entdeckt“, schwärmt der Musiker begeistert. „Normalerweise ist es nicht meine Art, die Instrumente anderer Leute anzufassen. Doch bei diesem Kontrabass war es um mich geschehen. Ich nahm ihn in die Hand und begann darauf herum zu zupfen. Das Prinzip ist mir ja klar, wenn man auf die Seite greift, verkürzt man die Länge, der Ton wird höher. Ich probiere weiter und eine Tonleiter gelingt.“

Und auch hier erkennt er sie wieder, die Querverbindungen: „Mit so einem Kontrabass kann ich da, wo spontan gesungen und musiziert wird, ganz einfach mitmachen. Bei Bedarf stimmt man den Kontrabass einfach um. Das ist genau das Richtige für mich! Hier habe ich meine Konstruktion und meine Orientierung, so wie in der Malerei. Ich muss dafür sorgen, dass die Harmonien stimmen, aber innerhalb der Harmonien geht alles.“

Ob er schon begonnen hat, Unterricht zu nehmen, möchte ich noch wissen. „Nein, das Kontrabassspielen werde ich mir selbst beibringen“, antwortet Ewald Seemayer lachend, „ich lerne vom Zuschauen und mein Gehör ist trainiert. Ich weiß ja, wo es hingeht.“

Nichts erscheint mir sicherer als das! Und wenn es doch anders kommen sollte, ist eines gewiss: Ewald Seemayer, der kreative Allrounder, wird auch dann etwas ganz Wunderbares daraus machen.

Ewald Seemayer

Ewald Seemayer

Mehr Informationen zu Ewald Seemayers Werk & Ausstellungen:
www.ewald-seemayer.com

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