Die Zeiten sind lange vorbei, in denen Biografien nur für Prominente verfasst wurden. Immer mehr „Menschen wie du und ich“ verspüren den Wunsch, ihr Leben aufzuschreiben oder aufschreiben zu lassen.

Viele begeben sich dabei auf Spurensuche in der Familiengeschichte. Das Leben der Eltern und Großeltern ist von großem Interesse, auch im Zusammenhang mit den Ereignissen des letzten Weltkrieges. Vielleicht sind wir uns des Themas Aufarbeitung heute bewusster, weil wir mehr Möglichkeiten dafür haben als die Nachkriegsgeneration. Doch auch der Zeitgeist könnte hier eine Rolle spielen: Heutzutage, wo kaum noch etwas Bestand zu haben scheint, möchte man der Familie und der Welt gern bleibende, unverwechselbare Spuren hinterlassen – die eigenen Lebensspuren.

Das Familiengedächtnis füttern

Viele Menschen möchten in die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte auch das Leben ihrer Vorfahren einbeziehen. Der Markt für die unterschiedlichen Werkzeuge der Bewusstseinsarbeit boomt und bietet ein reichhaltiges Angebot, um sich mit Fragen wie „Woher komme und wer bin ich?“ zu beschäftigen.

Jenen, die ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben wissen wollen, geht es sicherlich um weit mehr als nur um das Anfertigen einer Chronologie der Lebensereignisse. Ich persönlich glaube, es geht ihnen um das Herstellen einer sicht- und fühlbaren Verbindung zwischen ihrem Gestern, Heute und Morgen. Und um das Gewinnen von Einsicht in das Prinzip von Ursache und Wirkung, bezogen auf das eigene Ursprungssystem. Es ist ihnen ein Bedürfnis, ihr eigenes, seeleninnerstes Wesen zu verstehen und herauszufinden, was sie zu genau dem Menschen gemacht hat, der sie sind. Und dieses Verständnis auch den Lieben zu vermitteln, auf dass es ihnen helfe, auch sich selbst besser zu verstehen.

Denn die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen und ihre Aufzeichnung bedeutet, einen Teil der Familiengeschichte zu sortieren und den Nachkommen damit ein unbezahlbares Geschenk zu hinterlassen. Dem Stolz auf die Lebensleistung darf Ausdruck verliehen werden, während die Stärken und das Potenzial des eigenen Familiensystems erkannt werden, aber auch tief im Familienbewusstsein sitzende Muster und Traumata.

Dieses offenbar immer größer werdende Bedürfnis, die eigene Geschichte zu erzählen, hat möglicherweise mit einem sehr zurückhaltenden Mitteilungsbedürfnis der vorhergehenden Generationen zu tun. Denn ein Phänomen, von dem man häufig hört, ist das „Schweigen der Großeltern“: Viele von ihnen weigerten sich, über ihre traumatischen Erlebnisse während der Zeit des zweiten Weltkrieges zu berichten. Dies geschah wohl in dem verzweifelten, wohlmeinenden Versuch, die Schwere der vergangenen Ereignisse hinter sich zu lassen und nichts von dem erlebten Grauen an die eigenen Kinder weiterzugeben. Dass sich diese Form der Ausblendung jedoch in emotionaler Hinsicht verheerend auf nachfolgende Generationen auswirken kann, darüber sind sich heutige Psychologen einig.

Mit dem sogenannten „emotionalen Erbe“ beschäftigt sich auch eine interessante Studie der Neurowissenschaftlerin Rachel Yehuda aus dem Jahr 2005, die den Kortisolhaushalt von 38 Kleinkindern und ihren Müttern untersuchte. Kortisol ist ein Hormon, das bei der Verarbeitung von Stress eine wichtige Rolle spielt. Aus der Studie geht hervor, dass diese Kinder einen ebenso niedrigen Kortisolspiegel aufwiesen wie ihre Mütter, die am 11. September 2001 traumatisiert worden waren. Dies bedeutet: Übertragene emotionale Traumata sind in der Physis der Nachkommen messbar. Was ein Mensch also an Aufarbeitung in jedweder Form leistet, leistet er nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Kinder und Kindeskinder.

BiografInnen: Strukturgebende Begleitung

Sobald man sich darauf einlässt, seine Lebensgeschichte zu erzählen und aufzuschreiben, beginnt ein tiefgehender Prozess des Reflektierens, bei dem man große Verantwortung übernimmt. Die Dinge des Lebens gestalten sich oft komplex, die Menschen und ihre Beziehungen zueinander sind es ebenso. Sehr bald stellt sich die Frage: Wie erzählt man ehrlich, authentisch und dennoch möglichst neutral? Wie geht man mit sensiblen, andere Menschen betreffenden Informationen um? Was muss erzählt werden, damit das Lebensbild als vollständig empfunden wird, was kann ungesagt bleiben? BiografInnen unterstützen dabei, die Kernthemen der Lebensgeschichte so herauszuarbeiten und darzustellen, dass keine Grenzen überschritten werden.

Es erfordert Klarheit, Mut und Konsequenz, die eigene Geschichte zu erzählen und sich mit ihren hellen, wie auch dunklen Aspekten zu konfrontieren. Die Biografin oder der Biograf wird hier zur absoluten Vertrauensperson, die genau hinhört und versteht, was die erzählende Person sagen möchte, und schließlich die richtigen Worte für das Erlebte und Gefühlte findet. Die Etablierung eines Vertrauensverhältnisses zwischen erzählender Person und BiografIn ist somit eine der Grundvoraussetzungen für das Gedeihen der Zusammenarbeit. Denn nicht selten treten während des Erzählens alte Emotionen wieder an die Oberfläche des Bewusstseins. Doch jedes Gefühl, das während dieses Prozesses bewusst verarbeitet wird, und jede Träne, die nun fließt, hilft dabei, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen und sie endgültig abzuschließen.

Neben der emotionalen Herausforderung kann der/die Erzählende auch schon mal das Gefühl bekommen, angesichts der vielen nun plötzlich aktivierten Erinnerungen kaum den Überblick bewahren zu können. Auch hier wirken BiografInnen unterstützend, beobachten die sich entspinnende Lebensgeschichte neutral und doch mitfühlend, um sie aufzuzeichnen, zu analysieren und zu strukturieren. Auch gelegentliche Selbstzweifel und Mutlosigkeit sind völlig normale, menschliche Reaktionen im Prozess der Aufarbeitung.

Positive Resümees ziehen

Doch da gibt es natürlich auch die vielen angenehmen Aspekte der Erinnerungsarbeit: Während der eigene Weg reflektiert und aufgeschrieben wird, offenbaren sich einmal mehr die ganz großen Geschenke des Lebens: die wertvollen zwischenmenschlichen Beziehungen, Talente und Begabungen, Kraftquellen und Durchhaltevermögen in schwierigen Zeiten, glückliche Fügungen. Mit dem positiven Effekt, dass die Dankbarkeit für das Fördernde, Schöne und Gute in unserem Leben mitunter ungeahnte Ausmaße annimmt.

Und schließlich bringt die Erkenntnis „Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte – und die anderen auch“ nicht selten den lang ersehnten inneren Frieden.

Aufgabe von BiografInnen ist es in jedem Fall, den erzählenden Menschen wertfrei und empathisch durch seinen persönlichen Erinnerungsprozess zu begleiten. Denn der geistige Weg, auf den sich dieser gemacht hat, ist ihnen zutiefst vertraut. Sie kennen seine Tücken und Schattentäler, aber auch das erhebende Gefühl, das sich einstellt, wenn die Lebensbetrachtung vollendet und gelungen ist. Und sie ist dann gelungen, wenn die vielen kleinen Steinchen des Erinnerungsmosaiks sich schließlich zu einem einzigartigen Gesamtbild gefügt haben, in dem sich so manche Antwort auf die Frage nach dem persönlichen Woher? und Wohin? finden lässt: den unauslöschlichen Lebensspuren eines Menschen.

Herzlichst, Ihre

Andrea E. Maier

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